Authentizität transformieren. Übersetzen und Rahmen als Praktiken des dokumentarischen Films in medialen Milieus
Projektleitung: Prof. Dr. Thomas Weber, Universität Hamburg
Wissenschaftliche Mitarbeit: Eva Knopf
(Medienwissenschaft, Schwerpunkte: Film und Fernsehen)
Das Projekt „Authentizität transformieren“ befasst sich mit den Transformationen des dokumentarischen Films als Praktiken des Übersetzens und Rahmens in unterschiedlichen medialen Milieus. Diese werden als stabile, repetierbare Formen des Zusammenspiels von heterotypischen Akteuren (Programme, Konventionen, Institutionen, menschliche Individuen usw.) verstanden, die bei der Produktion, Distribution und Rezeption von Medienprodukten interagieren und jeweils von medialen, kulturellen und situationalen Bedingungen geprägt werden. Dokumentarische Filme haben sich in ganz unterschiedliche mediale Milieus ausdifferenziert (Kinofilme, Industrie- und Lehrfilme, YouTube-Clips, Reality TV etc.), in denen das audiovisuelle Material jeweils milieutypische Bearbeitungsprozesse des Übersetzens (insbesondere von Plausibilisierungskriterien) und des Rahmens durch mediale Formatierungen durchläuft.
Anhand von drei Schwerpunktthemen wurden Operationen des Übersetzens und Rahmens als mediale Praktiken der Transformation untersucht im Hinblick auf damit einhergehende Transformation von Authentizitäts- bzw. Glaubwürdigkeitskriterien:
1. Die Wiederaufnahme von historischem Filmmaterial zu NS-Zeit und Holocaust in andere Filme und damit einhergehende Bedeutungsverschiebungen: Neben sogenannten Kompilationsfilmen der 1950er Jahre wurden insbesondere am Beispiel von Arbeiten von Alain Resnais, Chris Marker und Harun Farocki analysiert, wie gleiche Sequenzen von einem medialen Milieu in ein anderes übersetzt bzw. remediatisiert werden und durch diese Transformation der jeweiligen Rahmen auch andere Plausibilitätskriterien und damit neue Bedeutung kreieren.
2. Transformationen von dokumentarischem Material zum Thema Migration: Aus post- bzw. dekolonialisierenden Perspektiven ist das Projekt vor allem dem Problem der An- und Abwesenheit (der Kamera bzw. von Archivmaterial) nachgegangen anhand von Beispielen jüngerer dokumentarischer Arbeiten von Philipp Scheffler, Eva Knopf, Göran Hugo Olsson, Renzo Martens, Vladimir Tomic u.a. Dabei ging es um die Frage, inwieweit durch Übersetzungsprozesse von Filmmaterial aus einem medialen Milieu in ein anderes möglich sind bzw. sich auch die Abwesenheit übersetzen lässt und wie sich Glaubwürdigkeitskriterien dabei verändern.
3. Dokumentarfilmische Projekte im medialen Milieu von Filmfestivals und des Kunstbetriebs: Übersetzungs- und Rahmenprozesse wurden im Hinblick auf den spielerischen und d.h. auch reflexiven Umgang mit Authentizitätskriterien untersucht: angefangen bei RLF von Friedrich von Borries, über die neue Welle von österreichischen Dokumentarfilmen seit den 2000er Jahren (Michael Glawogger, Ulrich Seidl, Erwin Wagenhofer, Hubert Sauper etc.) bis hin zu sensory documentaries (Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel u.a.).
Übersetzen und Rahmen wurden bei allen Analysen als transitorische Akte begriffen, die in fortlaufende Prozesse der medialen De-, Re- und Neukontextualisierung eingebettet sind und je auch zu medialen Modalisierungen von Authentizitätsansprüchen, d.h. zur Produktion von Sinn, eingesetzt werden. Das Projekt fokussierte die konkreten, praxeologisch zu untersuchenden Interaktionen der Akteure in medialen Milieus, der Transformationen des Wechselspiels von Darstellung und Wahrnehmung und nicht zuletzt auch der Korporalität und Materialität dieser Prozesse. Ein zentrales Ergebnis der Studien ist, dass sich erst durch Kenntnis der medialen Praktiken die Bedeutung des Dokumentarischen erschließt. Zudem wurde deutlich, dass durch die Übersetzung von Filmmaterial von einem in ein anderes mediales Milieu neue Bedeutung entsteht durch die damit verbundene Transformation von Glaubwürdigkeitskriterien.
Während der Laufzeit des Projekts war zu beobachten, dass sich die Fachdiskussionen zum dokumentarischen Film verändert haben: Nicht mehr klassifikatorische Ansätze stehen im Vordergrund, sondern vielmehr Fragen der Prozessualität, die auf die Art und Weise des Zustandekommens zielen. Unter verschiedenen Begriffen wie operational oder pragmatic turn, bzw. praxeologischen Betrachtungsweisen fächert sich dabei inzwischen ein interdisziplinäres Feld unterschiedlicher Zugänge zum Dokumentarischen auf. Der Forschungsverbund Übersetzen und Rahmen und insbesondere das Teilprojekt „Authentizität transformieren“ war dieser Diskursentwicklung voraus und hat wichtige theoretische Beiträge zu dieser noch im Gang befindlichen Diskussion geliefert.
Das Forschungsprojekt hat zum Aufbau des dokART Labors im Rahmen des RCMC geführt, in dem sich auch nach Ende des Forschungsverbunds weiterhin WissenschaftlerInnen zusammenfinden, um sich über mediale Praktiken des Dokumentarischen auszutauschen und gemeinsam weitere Projekte vorzubereiten. Weitere Informationen darüber sowie über geplante Anschlussprojekte siehe www.dokARTlabor.avinus.de.