‚Performing Poetry‘. Mediale Übersetzungen und situationale Rahmungen zeitgenössischer Lyrik
Projektleitung: Prof. Dr. Claudia Benthien, Universität Hamburg
Wissenschaftliche Mitarbeit: Wiebke Vorrath
(Germanistik, Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft)
Das Forschungsprojekt hat sich unter medien- und performativitätstheoretischer Perspektive mit deutschsprachiger Gegenwartslyrik in ihren verschiedenen medialen Ausprägungen auseinandergesetzt: Lyrische Texte werden heutzutage auf der Bühne gesprochen und aufgeführt – in Lesungen und Spoken-Word-Events –, sie werden von den Dichter/innen oder von professionellen Sprecher/innen im Tonstudio eingesprochen, manchmal werden sie auch mit Musik oder Sounds unterlegt. Neben der klassischen Publikation in Buchform werden Gedichte auf CDs und DVDs distribuiert, als popkulturelle ‚Poetry Clips‘ oder künstlerische ‚Video Poems‘ inszeniert. Im Internet findet sich darüber hinaus digitale Poesie, die Schrift- und Soundelemente experimentell einsetzt, wodurch Ansätze der Avantgarden und der konkreten Poesie aufgegriffen und weitergeführt werden. Diese unterschiedlichen Formate haben die Aufmerksamkeit auf die intermedialen Traditionen von Lyrik gelenkt, zugleich aber wurde deutlich, dass neue Theorieansätze erforderlich sind, um das Spektrum der Gegenwartslyrik angemessen zu untersuchen.
Die im Forschungsprojekt durchgeführten Untersuchungen haben die Ausgangsthese bestätigt, wonach sich die verschiedenen Formate aktueller Lyrik aufeinander beziehen und in beständigen Wechselwirkungen stehen. Diese doppelte Dynamik wurde als „mediales Übersetzen und situationales Rahmen“ verstanden. So ging es zum Beispiel nicht allein um die Frage des Übersetzens schriftlicher Parameter wie Verse, Strophen und Interpunktion in körperlich-stimmliche Präsenz, sondern um das grundlegende Wechselverhältnis von schriftlicher und mündlicher Modalität. Das Konzept der Audioliteralität ermöglichte eine solche Konzeptualisierung der skripturalen Elemente in mündlicher Lyrik wie auch der oralen Strukturen in schriftlichen Gedichten. So ging es andererseits nicht nur darum, dass beispielsweise ein Live-Auftritt innerhalb eines Poetry Slams durch das Veranstaltungsformat (mehrere Slammer/innen, Wettbewerbscharakter, Publikumsbewertung etc.) situational gerahmt wird. Vielmehr hat das Projekt auch die online gestellten Video-Aufzeichnungen und deren Rahmungen auf YouTube untersucht, sowie deren Auswirkungen auf weitere audiovisuelle Lyrik-Formate, zum Beispiel modulare Plattformen wie www.lyrikline.org, herausgestellt. Dem Titel Performing Poetry entsprechend wurde jegliche Präsentationsform und kulturelle Aneignung von Lyrik im Projekt als ‚Aufführung‘ verstanden.
Die Ausgangshypothesen, dass Übersetzungsprozesse in Gegenwartslyrik auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden – zwischen verschiedenen Medien, Modalitäten und Sprachen – und, dass die jeweilige situationale Rahmung von Gedichten einen erheblichen Anteil an deren Sinnkonstitution hat, wurden bestätigt. Das Projekt hat induktiv gearbeitet und interdisziplinäre Ansätze in die Lyrikforschung eingebracht, wobei insbesondere solche aus der Medienwissenschaft, der Theaterforschung und der Sprechwissenschaft Berücksichtigung fanden, des Weiteren aus den Visual und Sound Studies. Es wurde deutlich, dass Lyrik im ‚digitalen Zeitalter‘ einer neuen, erweiterten Bestimmung bedarf, die über ihre gedruckte Norm und schriftliche Manifestation hinausgeht und auch ihre oralen, musikalischen, visuellen, kinetischen, technischen, medialen und multimodalen Dimensionen in den Blick nimmt. Nur ein derart erweitertes Verständnis von Lyrik ist in der Lage, die gegenwärtige Popularität einer vermeintlich ‚anachronistischen‘ Gattung zu erklären.
Das Projekt hat ein öffentliches Wissensforum im Literaturhaus Hamburg und eine internationale Tagung, Poetry in the Digital Age, veranstaltet. Während der Laufzeit wurden verschiedene Aufsatzpublikationen sowie eine Dissertation verfasst. Ziel der Aufsatzpublikationen war die Entwicklung eines theoretischen Rahmens, der die Analyse der verschiedenen Formate sowie ihrer Übersetzungen und Rahmungen ermöglicht und der exemplarisch anhand unterschiedlicher Akzente erprobt wurde. Bas Böttcher, Nora Gomringer, Franziska Holzheimer, Thomas Kling, Albert Ostermaier, Jörg Piringer, Cia Rinne, und Jan Wagner sind einige der Dichter/innen und Spoken Word Poet/innen, deren Werke in diesen Forschungsbeiträgen besprochen wurden, die aber auch in Veranstaltungen des Teilprojekts aufgetreten sind. Die Kooperation mit Künstler/innen hat zudem für die Übersetzungsprozesse zwischen Kunst und Wissenschaft sensibilisiert. Systematisch werden im Projekt entwickelte Theorieansätze zur auditiven Dimension von Lyrik in der Dissertation Hörlyrik der Gegenwart. Theorie und Aisthesis auditiver Poesie in digitalen Medien von Wiebke Vorrath aufbereitet und daraus erstmalig ein Analysemodell für Hörlyrik entwickelt (Abschluss der Arbeit Frühjahr 2018).