Lina Höhne
Choreografische Praxis in exkludierten gesellschaftlichen Räumen. Eine Studie über die körperlich-ästhetische Erfahrung und Partizipation im Jugendstrafvollzug in Deutschland (Arbeitstitel)
Um kulturelle und soziale Teilhabe zu ermöglichen, müssen sich künstlerische Angebote an den Lebensrealitäten ihrer Teilnehmer_innen orientieren und sich an Orte begeben, an denen Kinder und Jugendliche leben, die gefördert werden sollen. Der Betrachtung dieses Versuches im Feld der choreografischen, zeitgenössischen Tanzpraxis im Jugendstrafvollzug widmet sich dieses Dissertationsvorhaben. Junge Strafgefangene haben auch im Zwangskontext des Freiheitsentzuges ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung. Dies ist im § 1, SGB VIII gesetzlich festgeschrieben. Diesem Recht auf Förderung der Entwicklung folgend, haben alle inhaftierten Jugendlichen einen Anspruch auf Bewegung und auf kulturelle Teilhabe. Da sich jene Jugendlichen in einem exkludierten gesellschaftlichen Bereich befinden, können sie Angebote nicht frei wählen und sind von den Entscheidungen der Institution abhängig. Der Strafvollzug erscheint somit nur sehr eingeschränkt partizipationsfähig — die Institution hat in Bezug auf die Kulturelle Bildung der Gefangenen die Entscheidungsgewalt über die angebotenen Projekte, über deren Inhalte und Qualität. Somit prallen im hierarchischen Gefüge des Jugendstrafvollzuges individuelles Bedürfnis und gesellschaftlicher Anspruch in Bezug auf kulturelle Partizipation aufeinander. Von Seiten der Kulturellen Bildung wird im Hinblick auf die Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen eine Grundbildung und eine Qualitätssicherung im Sinne einer Alphabetisierung in den Künsten gefordert. Dieser Anspruch wird vom Rat Kulturelle Bildung sogar als Menschenrecht betrachtet. Die Einlösung dieses Anspruches ist innerhalb Deutschlands trotz mannigfaltiger Projekte und einer in der Kulturellen Bildung breit geführten Partizipationsdebatte immer noch defizitär.
Im Kontext des Strafvollzugs ist wenig erforscht, in welchem Umfang und über welche Inhalte den Gefangenen Kulturelle Bildung gewährleistet wird. Die Anstalt entscheidet an dieser Stelle über Ein- oder Ausschluss der Angebote, da sie der Sicherheit und Ordnung der Institution und dem Anspruch der Resozialisierung der Gefangenen gerecht werden müssen. In Anbetracht der lückenhaften Forschung will die geplante Studie einen Teilbereich der Kulturellen Bildung — den des zeitgenössischen Tanzes und der choreografischen Praxis — im Jugendstrafvollzug betrachten. In einer ethnografischen Studie soll einerseits eine Überblicks- Landkarte von choreografischen Projekten im deutschen Jugendstrafvollzug erstellt werden. Andererseits soll anhand eines choreografischen Projektes im Jugendstrafvollzug hinterfragt werden, wie und ob innerhalb des exkludierten gesellschaftlichen Raumes des Jugendstrafvollzuges körperlich-ästhetische Erfahrungsräume durch Tanz eröffnet werden können und ob kulturelle Teilhabe mittels der Partizipation an choreografischen Prozessen realisiert werden kann.
Betreuung: Prof. Dr. Gabriele Klein