Julia Christall
Tanz und Intimität. Eine ethnografische Studie am Beispiel des Lindy Hop (Arbeitstitel)
In der Soziologie wird Intimität vorwiegend im Diskurs um soziale Normen, Wertesysteme und Aushandlungsprozesse im Kontext institutionalisierter Beziehungsformen (Liebes-, Freundschafts- und Familienbeziehungen) verortet. Analysen von Intimität, die Intimität auch außerhalb dieser Beziehungsformen sowie als verkörperte Praxis in den Blick nehmen, stehen jedoch weitgehend aus. An dieses Forschungsdesiderat schließt das Dissertationsprojekt an, indem es das soziologische Verständnis von Intimität um eine körpersoziologische, leibphänomenologische und praxistheoretische Perspektive erweitern möchte. Paartanz als körperlich-leibliche Praxis stellt dafür ein geeignetes Untersuchungsfeld dar. Die Arbeit erforscht Intimität im Abstimmungsprozess des Paartanzens am Beispiel des Lindy Hop. Da Abstimmungsprozesse im Paartanz performativ soziale Wirklichkeit hervorbringen, ermöglichet dieser Fokus auch, ein performatives Verständnis von Intimität zu erarbeiten. Paartanz wie der Lindy Hop charakterisiert, dass das gemeinsame Tanzen durch regelmäßigen Partner:innenwechsel in Tanzkursen und auf Tanzveranstaltungen eben nicht auf persönliche, intime Beziehungen beschränkt ist, sondern sehr häufig mit Personen stattfindet, die den Tanzenden entweder völlig fremd oder nur im Kontext des Tanzens bekannt sind.
Der Abstimmungsprozess im Paartanz wird im Sinne Merleau-Pontys (1966) als sozial geteilter Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum verstanden, worin die Erfahrungsqualität des kontinuierlichen einander Spürens, Sehens, Hörens und Fühlens als performative, flüchtige Intimität verortet und untersucht werden kann. Ziel des Dissertationsprojekts ist es, diesen Wahrnehmungsraum der Tanzenden zu adressieren, um Intimität als Erfahrungsqualität in seinen affektiven Strukturen, Wissensordnungen und Sinngehalten zu beleuchten. Das Projekt orientiert sich dabei an folgenden Fragen: Wie ist die affektive Qualität dieses gemeinsamen Erfahrungsraums? Inwiefern wird der Abstimmungsprozess selbst als intim erfahren? Wie wird Intimität im Abstimmungsprozess körperlich-leiblich vollzogen und performativ hervorgebracht? Wie wird Intimität in Form einer performativ hervorgebrachten „Wir“-Einheit der Tanzenden verkörpert?
Eine ethnographische Analyse am Beispiel des Lindy Hop bietet dabei anhand seiner nicht-erotischen Ästhetik die Möglichkeit, Intimität auch fernab einer an Erotik, Sinnlichkeit und Sexualität geknüpften affektiven Erfahrungsqualität zu denken. Außerdem birgt der Lindy Hop mit seiner nicht-heteronormativen Paarkonstellation, Rollenstruktur und androgynen Ästhetik das Potenzial, verkörperte Intimität abseits der Verkörperung eines heteronormativen, an spezifische Geschlechtskonstruktionen geknüpften Paarideals, zu betrachten.
Betreuerin: Prof. Dr. Gabriele Klein